Masochismus
Schmerz, Lust und die Geschichte eines missverstandenen Phänomens
Schmerz gehört zu den fundamentalen Empfindungen menschlichen Lebens. Evolutionär ist er ein Warnsignal, das uns vor Verletzungen schützt. Doch was passiert, wenn Schmerz nicht vermieden, sondern bewusst gesucht wird und dabei Lust entsteht? Das ist doch paradox und ergibt überhaupt keinen Sinn – oder?
Masochismus ist ein vielschichtiges Phänomen, das sowohl in der sexuellen Erlebniswelt als auch darüber hinaus eine Rolle spielt. In der öffentlichen Debatte und selbst in der medizinischen Literatur wurde Masochismus lange Zeit pathologisiert und moralisch aufgeladen. Aber: Masochismus ist weit verbreitet, keineswegs automatisch krankhaft – und mitnichten nur ein sexuelles Phänomen.

Betrachten wir das Thema also aus der Sicht der Sexualmedizin und auf Basis wissenschaftlicher Studien: Was versteht man unter Masochismus? Wie hängen Schmerz und Lust neurologisch und psychologisch zusammen? Seit wann kennt die Menschheit masochistische Praktiken? Und gibt es Masochismus auch außerhalb des sexuellen Kontextes?
Masochismus – was ist das überhaupt?
Der Begriff „Masochismus“ wurde im 19. Jahrhundert vom österreichischen Psychiater Richard von Krafft-Ebing geprägt. In seinem Werk „psychopathia sexualis“ (1886) beschrieb er Menschen, die sexuelle Erregung aus Unterwerfung, Demütigung oder Schmerzen beziehen – und nannte den Begriff nach dem Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch, dessen Roman Venus im Pelz (1870) eine fiktionale Ausformung solcher Lustfantasien darstellte. Freud sah im Masochismus einen Ausdruck unbewusster Konflikte, insbesondere eine Umkehrung aggressiver Impulse gegen das eigene Selbst (Freud, 1924). Diese Sicht ist historisch bedeutsam, gilt aber heute als überholt und zu normativ.
Verhaltenstheorien deuten masochistisches Verhalten als durch Konditionierung gelernt: Schmerz wird in einem lustvollen Kontext positiv besetzt (Kelsey et al., 1982). Eine neutrale oder sogar negative Erfahrung wird durch Wiederholung mit Belohnung verknüpft. Neuere Modelle betonen die Bedeutung sicherer Bindung und Affektregulation: Der masochistische Kontext erlaubt eine kontrollierte Erfahrung von Intensität, Nähe und Abhängigkeit – insbesondere für Menschen mit hohem Bedürfnis nach emotionaler Tiefe und Reizverarbeitung (Baumeister, 1989; Sandnabba et al., 2002). Manche Patienten:innen berichten, dass sie durch masochistische Erlebnisse Selbstvertrauen, Resilienz und tiefe emotionale Verbindung erfahren. Schmerz wird in einen positiven Bedeutungskontext eingebettet – etwa als „innerer Reset“, Hingabe oder bewusste Grenzerfahrung.
Zahlreiche anthropologische, psychologische und medizinische Studien zeigen, dass masochistische Erlebensweisen jedoch nicht auf die Sexualität beschränkt sind. Es lassen sich grob drei Kategorien unterscheiden:
– sexueller Masochismus
Hierbei wird Schmerz im sexuellen Kontext erlebt und kann zur Steigerung der Erregung oder als zentrales Element des sexuellen Akts dienen. Wichtig ist der konsensuale Rahmen – z. B. im BDSM, das klare Regeln und Kommunikationsformen (wie Safewords) umfasst.
Die internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD-11) der WHO unterscheidet klar zwischen dem Erleben sexueller Erregung durch Unterwerfung, Schmerzen oder Demütigung und der sexuellen Masochismusstörungen (Masochistic Disorder). Aber nur, wenn das masochistische Verhalten zu erheblichem Leid oder funktionalen Einschränkungen führt, wird von einer Störung gesprochen.
Die Mehrheit sexuell masochistisch empfindender Menschen erfüllt nicht die Kriterien einer psychischen Störung. Vielmehr sind masochistische Neigungen Teil eines normalvarianten Spektrums menschlicher Sexualität (Connolly, 2006; Wismeijer & van Assen, 2013).
– nicht-sexueller, emotionaler Masochismus
Einige Menschen berichten, dass sie emotionale Demütigung oder Leid auf eine Weise erleben, die als tiefgreifend, bedeutungsvoll oder sogar befriedigend empfunden wird – jedoch ohne sexuelle Konnotation. Dies kann etwa in problematischen Beziehungsdynamiken (Co-Abhängigkeit) oder in spirituellen Praktiken vorkommen.
In der Literatur, z. B. bei Dostojewski, Kafka, Genet, Beckett etc. wird die Lust am Leiden zum Symbol der Menschlichkeit hochstilisiert oder der seelische Schmerz als Ausdruck von Authentizität, Reifung, Bewusstsein der Absurdität (wie bei Camus oder Sartre) gedeutet. Hierbei wird Schmerz ästhetisiert oder philosophiert, jedoch nicht erotisiert – manchmal mit masochistischen Zügen, aber ohne sexuelle Absicht.
– spiritueller oder ritueller Masochismus
In einigen Religionen und Kulturen werden schmerzhafte Rituale eingesetzt, um spirituelle Reinigungsprozesse oder transzendente Erfahrungen zu erreichen. Zum Beispiel die Karfreitagsprozessionen auf den Philippinen mit Kreuzigungen und Selbstgeißelung oder schmerzhafte Initiationsriten in indigenen Kulturen (z. B. bei den Mandan in Nordamerika), beziehungsweise die streng asketischen Praktiken im Hinduismus oder Sufismus. Diese Formen des Masochismus haben keine sexuelle Dimension, nutzen aber ähnliche neurophysiologische Mechanismen: Kontrolle über den Schmerz, Trancezustände, Endorphinfreisetzung.
Schmerz und Lust: Ein neurophysiologisches Wechselspiel
Masochismus wirft eine zentrale Frage auf: Wie kann Schmerz Lust auslösen? Schmerz ist doch unangenehm – oder?
Tatsächlich zeigen neurowissenschaftliche Studien, dass Schmerz und Lust sich neuronale Netzwerke teilen. Sowohl bei körperlicher Lust als auch bei Schmerzempfindung sind teilweise dieselben Hirnregionen beteiligt. Mehrere bildgebende Studien (z. B. Kimmerle et al., 2016) zeigen, dass bei sexuell masochistischen Personen schmerzassoziierte Hirnregionen anders aktiviert werden: Schmerz wird nicht primär als aversiv, sondern im Kontext als lustvoll erlebt. Der Körper unterscheidet also je nach Bedeutung und Kontext zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Schmerz – ähnlich wie bei sportlicher Anstrengung. Zusätzlich werden beim masochistischen Erleben Endorphine und Dopamin ausgeschüttet, die euphorisierend wirken. In kontrollierter Umgebung – mit Zustimmung und psychischem Wohlbefinden – kann Schmerz daher als sinnlich, erregend und befreiend empfunden werden (Pfaus et al., 2012).
Masochismus in der Menschheitsgeschichte
Obwohl der Begriff „Masochismus“ erst im 19. Jahrhundert entstand, ist das Phänomen deutlich älter. Historische Quellen aus verschiedensten Kulturen berichten von Praktiken, in denen Menschen durch Schmerz, Unterwerfung oder Selbstgeißelung spirituelle oder emotionale Erfüllung suchten.
In Mesopotamien und bei den Sumerern gab es rituelle Selbstverletzungen zu Ehren von Göttinnen wie Inanna oder Ishtar, die mit Sexualität und Schmerz assoziiert wurden. Bestimmte Rituale zu Ehren Ishtars (der akkadischen Entsprechung Inannas) konnten ekstatische und körperlich intensive Formen annehmen, inkl. Tanz, Klage, Schmerz, Körpermarkierungen (Bahrani, 2001).
In der griechischen Antike findet man in Mysterienkulten (z. B. in Eleusis) körperliche Prüfungen und Initiationen, die auch Schmerz und Demütigung beinhalteten. Die Römer kannten sowohl sadistische Gladiatorenspiele als auch erotische Literatur, in der Schmerzlust thematisiert wird (z. B. in den Satyrica des Petronius).
Im christlich geprägten Mittelalter wurde Selbstkasteiung als Ausdruck von Frömmigkeit gedeutet. Die Geißlerbewegungen des 14. Jahrhunderts sahen im Schmerz eine Form der Sühne und spirituellen Reinigung. Heilige wie Katharina von Siena oder Franz von Assisi beschrieben ekstatische Zustände im Zusammenhang mit körperlichem Leiden – aus heutiger Sicht durchaus als nicht-sexueller Masochismus interpretierbar.
In der Literatur der Renaissance tauchen erste erotische Andeutungen masochistischer Fantasien auf, etwa in der französischen Lyrik bei Pierre de Ronsard (1524–1585) oder Joachim du Bellay (1522–1560) finden sich subtile Verweise auf Lust durch Unterwerfung oder auf Schmerz als Teil erotischer Erfahrung.
Auch in italienischer Literatur, etwa bei Pietro Aretino (1492–1556), gibt es explizitere Beschreibungen von sexuellen Spielen mit Macht- und Schmerzmotiven, z. B. in den Ragionamenti. Diese Texte zeigen bereits eine bewusste Verbindung von körperlicher Empfindung und erotischer Erregung.
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich in den Libertinensalons Frankreichs eine subversive Auseinandersetzung mit Schmerz und Lust – ein Vorläufer der modernen SM-Kultur. In diesen „salons de libertins“ – privaten Räumen der Oberschicht – wurde Sexualität diskutiert, inszeniert und literarisch verarbeitet. Autoren wie Marquis de Sade (1740–1814) oder Restif de la Bretonne (1734–1806) verarbeiteten in ihren Werken explizit Praktiken, bei denen Schmerz und Lust verflochten sind.
Sades Werke (Justine, Juliette, Les 120 journées de Sodome) sind typisch für diese Epoche und in ihnen wurde Sexualität, Macht, Grausamkeit und Philosophie miteinander kombiniert. Sie stellen die wohl erste literarische Ausarbeitung sadomasochistischer Fantasien dar.
Mit Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz (1870) wurde das Phänomen Masochismus erstmals explizit und ohne Verklausulierungen literarisch dargestellt. Richard von Krafft-Ebing diagnostizierte in seinem Werk „psychopathia sexualis“ Masochismus als „perverse Abart“ – ein bis heute problematischer Begriff.
Eine Randerscheinung?
Mehrere groß angelegte Studien haben die Prävalenz masochistischer Fantasien oder Praktiken in der Allgemeinbevölkerung untersucht:
In einer französischen Bevölkerungsstudie (Joyal & Carpentier, 2017) gaben 47% der Befragten an, Fantasien von Unterwerfung oder Kontrolle zu haben. Eine deutsche Studie (Herpertz et al., 2020) fand bei 5–10% der Erwachsenen regelmäßige masochistische Fantasien oder Praktiken. Eine US-amerikanische Studie (Rehor, 2015) berichtete, dass 36% der Männer und 46% der Frauen erotische Fantasien mit masochistischen Elementen haben.
Masochismus ist also kein Randphänomen, sondern Teil menschlicher Erfahrungsvielfalt.
Die Schattenseiten
In der klinischen Praxis begegnen Psychiater:innen und Psychotherapeuten:innen immer wieder einer Form des Masochismus, die weniger mit der Lust am Schmerz als vielmehr mit der Notwendigkeit innerpsychischer Stabilisierung zu tun hat. Menschen mit dieser Ausprägung suchen aktiv schmerzhafte oder selbstschädigende Erfahrungen auf – nicht, um sexuelle Erregung zu verspüren, sondern um intensives inneres Erleben, wie Leere, Wut, Angst oder Schuld, überhaupt regulieren zu können.
Dieser sogenannte Coping-Masochismus zeigt sich beispielsweise in nicht-suizidalem, selbstverletzendem Verhalten (NSSV), etwa dem Ritzen, dem Schlagen gegen den eigenen Körper oder dem absichtlichen Erleben physischer Schmerzen in alltäglichen Situationen. Viele der Betroffenen berichten davon, dass der Schmerz in diesen Momenten eine Art Beruhigung herstellt: Er beendet Dissoziationen, macht das eigene Erleben wieder greifbar oder lenkt von emotionalem Chaos ab. Studien legen nahe, dass diese Form des Schmerzverhaltens ein funktionaler Bewältigungsmechanismus ist, der kurzfristig tatsächlich zur Affektregulation beitragen kann (Klonsky, 2007; Nock, 2009).
Neurobiologisch lässt sich dieses Phänomen unter anderem durch die Aktivierung des endogenen Opioidsystems erklären. Die Ausschüttung körpereigener schmerzhemmender Substanzen – insbesondere Endorphine – kann nachweislich zu einer Reduktion negativer Affekte führen und eine Beruhigungsreaktion auslösen, vergleichbar mit einem Rauschzustand (Bresin & Gordon, 2013; Sher & Stanley, 2009). Diese Entlastung wird von Betroffenen oft als die einzige Möglichkeit erlebt, überhaupt Kontrolle über die eigene innere Welt zu gewinnen. Körperlicher Schmerz wird damit – paradoxerweise – nicht als destruktiv, sondern als stabilisierend erlebt.
Man spricht in diesem Zusammenhang von „pain substitution“ – einer Umwandlung seelischen Schmerzes in körperliches Erleben, das subjektiv besser kontrollierbar ist (Grawe, 2004). Besonders häufig wird diese Dynamik bei Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, schweren depressiven Episoden oder komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen beobachtet (Bohus et al., 2000; Herman, 1992; Beck, 1979). Häufig liegt eine tief verankerte Überzeugung vor, für eigenes Leid oder das Leid anderer verantwortlich zu sein – verbunden mit einem unbewussten Bedürfnis nach Selbstbestrafung.
Betroffene haben meist einen immensen Leidensdruck und sollten sich in professionelle Hände, psychiatrischer und psychotherapeutischer Natur, begeben. Netzwerke wie KAPA können dabei unterstützen, geeignetes Fachpersonal zu finden!
Die Unterscheidung zwischen pathologischem und nicht-pathologischem Masochismus ist sowohl klinisch als auch gesellschaftlich von großer Bedeutung. Denn während einvernehmlicher sexueller Masochismus – etwa im Rahmen von BDSM-Praktiken – in der internationalen Forschung zunehmend als Variante sexueller Vielfalt verstanden wird, gelten andere Formen bei Leidensdruck als behandlungsbedürftig oder als Ausdruck von psychischer Erkrankungen, Traumafolgen oder Persönlichkeitsstörungen.
Fazit
Masochismus ist ein faszinierendes Phänomen, das weit über stereotype Vorstellungen von Sexualität hinausgeht. Historisch, kulturell und psychologisch zeigt sich, dass das bewusste Erleben von Schmerz und Unterwerfung viele Formen annehmen kann – von spiritueller Ekstase bis zur sexuellen Lust, von ritueller Reinigung bis zur Selbstermächtigung.
Aus sexualmedizinischer Sicht lässt sich sagen: Solange masochistische Praktiken konsensuell, sicher und selbstbestimmt erfolgen, sind sie Ausdruck gesunder Vielfalt. Sie verdienen keine Pathologisierung, sondern wissenschaftliche Neugier, gesellschaftliche Offenheit und individuelle Wertschätzung.
Frau Doktor K., August 2025
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Literaturverzeichnis (Auswahl):
– Bahrani, Z. (2001). Women of Babylon: Gender and Representation in Mesopotamia. Routledge.
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– Bohus, M., et al. (2000). Dissoziative Symptome bei Borderline-Persönlichkeitsstörung. Der Nervenarzt, 71, 732–739.
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