Was ist Sexualmedizin?
Und wer braucht sie?
Wenn Menschen an Medizin denken, haben sie meist innere Organe, Verletzungen oder chronische Erkrankungen im Kopf. Kaum jemand denkt an Sexualität.
Dabei ist sie ein fundamentaler Bestandteil unseres Lebens. Sexualität ist mehr als Geschlechtsverkehr. Sie ist ein Teil unserer Identität, unseres Wohlbefindens und oft auch unserer Partnerschaft.
Die Sexualmedizin ist das ärztliche Fachgebiet, das sich genau damit beschäftigt: mit der sexuellen Gesundheit in all ihren Facetten – körperlich, psychisch und sozial.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sexuelle Gesundheit als „einen Zustand physischen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität; sie ist nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörung oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit erfordert eine positive und respektvolle Einstellung zur Sexualität und zu sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, sexuelle Erfahrungen zu machen, die frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt sind“ (WHO, 2006).
Diese Definition macht deutlich: Sexuelle Gesundheit ist weit mehr als die Abwesenheit sexueller Funktionsstörungen oder Infektionen. Sie umfasst Aspekte wie Lust, Intimität, sexuelle Selbstbestimmung und Sicherheit. Es geht also nicht nur darum „gesund zu funktionieren“, sondern sich auch wohlzufühlen und die eigene Sexualität leben zu können – im Einklang mit den eigenen Werten und Grenzen.
Sexualität in der Medizin
Die Sexualmedizin ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das medizinische, psychologische und soziokulturelle Aspekte der menschlichen Sexualität integriert. Sie beschäftigt sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie sexueller Funktionsstörungen, aber auch mit Fragen der sexuellen Identität, der geschlechtlichen Entwicklung, sexuellen Traumata und vielem mehr. Sie vereint Erkenntnisse aus Allgemein- und Familienmedizin, Urologie, Gynäkologie, Endokrinologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Soziologie.
Laut der „European Society for Sexual Medicine“ (ESSM) umfasst Sexualmedizin sowohl biologische als auch psychosoziale Aspekte. So kann etwa eine erektile Dysfunktion organische Ursachen wie Gefäßerkrankungen haben, aber ebenso auf Stress, Ängste oder Beziehungskonflikte zurückgehen (Montorsi et al., 2003). Auch bei sexueller Lustlosigkeit oder Schmerzen beim Sex ist der Blick der Sexualmedizin immer ganzheitlich: Körper, Psyche und soziale Dynamik werden zusammengedacht.
Sexualität und Psyche
Sexualität ist ein grundlegender Teil menschlicher Erfahrung. Zahlreiche Studien zeigen, dass eine erfüllte Sexualität mit einer höheren Lebenszufriedenheit, besserer Partnerschaftsqualität und sogar körperlicher Gesundheit verbunden ist. Eine große Studie aus dem „Journal of Sexual Medicine“ fand beispielsweise einen Zusammenhang zwischen sexueller Zufriedenheit und psychischem Wohlbefinden (Laumann et al., 2005).
Fehlt sexuelle Gesundheit, leidet oft auch das Gesamtbefinden. Menschen mit sexuellen Problemen berichten häufiger über Depressionen, Ängste und Beziehungsprobleme. Umgekehrt sind psychische Erkrankungen häufig mit mit der Entstehung von sexuellen Beschwerden assoziiert. (Clayton et al., 2006). Es ist also ein Henne-Ei-Henne-Prinzip.
Sexualmedizin, Gesellschaft und Identität
Auch gesellschaftlich hat sexuelle Gesundheit eine enorme Relevanz. Zugang zu umfassender Sexualaufklärung, sicheren Verhütungsmitteln und Schutz vor sexueller Gewalt sind wesentliche Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben. Die WHO nennt sexuelle Rechte explizit als Menschenrechte, die geschützt und gefördert werden müssen (WHO, 2015).
Die Sexualmedizin kann Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen unterstützen. Häufige Anliegen betreffen zum Beispiel Störungen der sexuellen Erregung oder Lust, Orgasmusschwierigkeiten, Schmerzen beim Sex (Dyspareunie), Vaginismus (unwillkürliches Verkrampfen der Muskeln im Beckenbodenbereich bei jeglicher Penetration, zB dem Einführen eines Tampon oder Geschlechtsverkehr) oder Erektionsprobleme. Auch Veränderungen im Hormonhaushalt – etwa in den Wechseljahren, nach einer Geburt oder bei chronischen Erkrankungen – können das sexuelle Erleben beeinflussen und sind Teil sexualmedizinischer Beratung.
Ein wachsender Bereich der Sexualmedizin ist zudem die Begleitung von Menschen mit Varianten der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität. Transidente Menschen etwa benötigen eine individuell abgestimmte hormonelle und psychotherapeutische Begleitung. Auch Menschen aus der LGBTQIA+-Community, die Diskriminierung erlebt haben oder sich mit ihrer Identität unsicher fühlen, profitieren von einem sexualmedizinisch geschulten, akzeptierenden Umfeld. Auch unkonventionelle sexuelle Präferenzen (Kinks, Fetische, etc.) und damit eventuell verbundene körperliche und psychosoziale Begleiterscheinungen sind bei Sexualmediziner:innen in guten Händen.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die Sexualität in Partnerschaften. Viele Paare erleben Phasen, in denen die Sexualität nachlässt oder konflikthaft wird. Hier kann die Sexualmedizin helfen, Kommunikationsmuster zu analysieren, Bedürfnisse herauszuarbeiten und körperliche sowie psychische Ursachen zu klären. Studien zeigen, dass sexualmedizinisch geschulte Fachkräfte Paare darin unterstützen können, wieder mehr Nähe und Intimität zu erleben (McCabe et al., 2010).
Menschen leben oft lange mit einem unzufriedenstellendem Sexualleben oder körperlichen und seelischen Beschwerden, bevor sie sich Hilfe holen. Viele schämen sich oder glauben, ihre Probleme seien „nicht schlimm genug“. Manche haben schlechte Erfahrungen gemacht – mit Ärzt:innen, Therapeuten:innen, Coaches etc. die sexuelle Themen bagatellisieren oder pathologisieren. Andere wiederum wissen schlicht nicht, dass es Spezialisierungen wie die Sexualmedizin überhaupt gibt.
Der Benefit
Dabei gehört sexuelle Gesundheit zur medizinischen Grundversorgung. So fordert auch die „International Society for Sexual Medicine“ (ISSM), dass sexualmedizinische Kompetenzen Teil der ärztlichen Ausbildung werden und Patient:innen standardisiert Zugang zu sexualmedizinischer Versorgung erhalten (Althof et al., 2013).
Die gute Nachricht: Sexualmedizin kann sehr viel bewirken. Studien zeigen, dass bereits wenige Beratungsgespräche oder gezielte therapeutische Maßnahmen große Erleichterung bringen können – sei es durch hormonelle Therapie, sexualtherapeutische Gespräche, verhaltenstherapeutische Interventionen oder eine bessere Kommunikation in der Partnerschaft (Bitzer & Alder, 2010).
Sexualität ist ein zentraler Teil unseres Lebens. Wenn sie leidet, leidet oft auch unser Wohlbefinden. Die Sexualmedizin bietet einen geschützten Raum, um über sexuelle Fragen, Unsicherheiten oder Beschwerden zu sprechen – kompetent, offen und wertfrei. Sie nimmt sexuelle Probleme ernst und betrachtet sie ganzheitlich: körperlich, psychisch und sozial. Und sie erinnert uns daran, dass sexuelle Gesundheit kein Luxus ist, sondern ein Menschenrecht.
Frau Doktor K., Juni 2025
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Literaturverzeichnis (Auswahl):
– WHO (2006). Defining sexual health: Report of a technical consultation on sexual health, 28–31 January 2002, Geneva.
– WHO (2015). Sexual health, human rights and the law.
– Montorsi, F., et al. (2003). Erectile dysfunction and coronary artery disease: An Italian multicenter study. European Urology, 44(3), 360–364.
– Laumann, E.O., et al. (2005). Sexual dysfunction in the United States: Prevalence and predictors. JAMA, 281(6), 537–544.
– Clayton, A.H., et al. (2006). Sexual dysfunction associated with major depressive disorder and antidepressant treatment. Expert Opinion on Drug Safety, 5(4), 491–507.
– Althof, S.E., et al. (2013). Summary of the recommendations on sexual dysfunctions in men and women: Standard operating procedures for sexual medicine. The Journal of Sexual Medicine, 10(1), 293–304.
– Bitzer, J., & Alder, J. (2010). Sexual medicine in practice: Evaluation and treatment of sexual dysfunction in clinical settings. European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biology, 153(1), 3–9. – McCabe, M.P., et al. (2010). Psychological and interpersonal dimensions of sexual function and dysfunction. Journal of Sex Research, 47(2–3), 124–136.