Als Medizinerin begegne ich immer wieder Menschen, die sich mit Neugier oder auch mit Unsicherheit an mich wenden, wenn es um sogenannte „abweichende“ sexuelle Vorlieben geht. 

Besonders BD$M – ein Akronym für Bondage und Disziplin, Dominanz und Submission, Sadismus und Masochismus – ist ein Thema, das mit vielen Missverständnissen und Vorurteilen behaftet ist. Es wird Zeit, BD$M nicht mehr als Randphänomen zu behandeln, sondern als Bestandteil der menschlichen Sexualität anzuerkennen – historisch, global und medizinisch.


Historische Tiefe statt moderne „Abweichung“
BD$M ist keine moderne Erfindung. Bereits in frühen Kulturen finden sich Hinweise auf rituelle Praktiken, in denen Dominanz, Unterwerfung und gezielte Schmerzreize eine spirituelle oder soziale Funktion einnahmen. Der Sexualhistoriker Vern L. Bullough betont in „Human Sexuality: An Encyclopedia“ (1994), dass bereits im antiken Griechenland und Rom erotische Disziplinierungen dokumentiert wurden, etwa in der Form von Züchtigungspraktiken, die in erotischen Kontexten Verwendung fanden.
Der französische Psychiater Richard von Krafft-Ebing, der 1886 mit seinem Werk Psychopathia Sexualis die Begriffe „Sadismus“ und „Masochismus“ prägte, verortete diese Praktiken allerdings bereits im Bereich der Pathologie. Seine Sichtweise war stark durch die damalige Moral und ein medizinisches Verständnis von „Normalität“ geprägt, das heute als veraltet gilt. Spätere Forschungen, unter anderem von Roy Baumeister (1988), wiesen jedoch darauf hin, dass sadomasochistische Fantasien ein integraler Bestandteil vieler Menschen seien – unabhängig von psychischer Gesundheit oder Traumaerfahrungen.


Eine weltweite Praxis mit kultureller Vielfalt
BD$M ist kein westliches Nischenphänomen. Eine ethnologische Betrachtung zeigt, dass Praktiken von Machtspiel, Schmerz und Unterwerfung in zahlreichen Kulturen und Kontexten Ausdruck sexueller, ritueller oder sozialer Rollen sind. Die Anthropologin Margaret Mead beschrieb bereits in den 1930er Jahren sexualisierte Rituale in verschiedenen pazifischen Kulturen, in denen Dominanz und Disziplinierung Teil der sexuellen Dynamik waren.
Auch in Japan entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert die Kunstform Shibari – eine aus der Samurai-Tradition hervorgegangene Praxis des erotischen Fesselns. Heute ist sie ein kulturell anerkannter Bestandteil japanischer erotischer Ausdrucksformen und wird weltweit praktiziert. Solche Phänomene zeigen: BD$M ist Ausdruck einer tiefen menschlichen Auseinandersetzung mit Intimität, Macht und Körperlichkeit – und keineswegs auf westliche „Subkulturen“ beschränkt.


Zahlen, die Klarheit schaffen
Laut der Studie „Sexual Behavior in the United States: Results from a National Probability Sample of Men and Women Ages 14–94“ von Herbenick et al. (2017), berichten etwa 22% der US-Amerikaner, sexuelle Praktiken mit Elementen von Dominanz oder Unterwerfung ausprobiert zu haben. Eine britische Studie aus dem Jahr 2014 (Richters et al.) zeigt ähnliche Zahlen: Etwa ein Drittel der befragten Erwachsenen gab an, BD$
M-Fantasien zu haben, und 10% haben entsprechende Praktiken realisiert.

Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache: BD$M ist keine Randerscheinung, sondern Teil eines breiten Spektrums menschlicher Sexualität. Es handelt sich bei den meisten Praktizierenden nicht um Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, sondern um sexuell aktive Erwachsene, die auf einvernehmlicher Basis explorative Dynamiken leben.


Pathologisierung im Wandel der Zeit
Die medizinische Einordnung von BDSM war lange problematisch. Noch bis 2013 listete das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR) „Sadomasochistische Störung“ als psychische Erkrankung. Erst mit dem DSM-5 vollzog sich ein Paradigmenwechsel: Nicht mehr das Vorhandensein von BD$M-Fantasien oder -Verhalten allein, sondern erst ein damit verbundener Leidensdruck oder funktionale Beeinträchtigung gelten als pathologisch. Damit erkennt die moderne Psychiatrie erstmals an, dass BDSM – sofern einvernehmlich und nicht leidvoll – keine Störung ist.
Auch die Weltgesundheitsorganisation hat 2019 im Rahmen der International Classification of Diseases (ICD-11) einen ähnlichen Schritt gemacht: „Consensual sexual behaviours“ wie BD$M, Fetischismus oder Transvestitismus wurden explizit als nicht-pathologisch klassifiziert – ein bedeutsamer Meilenstein für die sexuelle Selbstbestimmung und gegen Stigmatisierung.


Warum Menschen BD$M praktizieren
Ein häufiges Missverständnis lautet: Wer BD$M praktiziert, muss traumatisiert oder psychisch labil sein. Doch die wissenschaftliche Evidenz widerspricht dem klar. Eine Studie von Connolly (2006) untersuchte die psychische Gesundheit von BD$M-Praktizierenden und fand keine höheren Raten von psychischen Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Im Gegenteil: In bestimmten Parametern wie Offenheit für Erfahrungen, Kommunikationsfähigkeit und Beziehungsqualität schnitten BD$M-Praktizierende sogar besser ab.
Die Motivationen für BD$M sind vielfältig: Manche erleben durch Dominanz oder Unterwerfung intensive erotische Zustände, andere suchen emotionale Nähe, tieferes Vertrauen oder einen Zustand meditativer Hingabe. Die Sexualwissenschaftlerin Peggy Kleinplatz betont, dass „intensive sexuelle Erfahrungen häufig außerhalb des traditionellen Koitus stattfinden – durch bewusste Inszenierung, Grenzerfahrungen und tiefe emotionale Bindung“ (New Directions in Sex Therapy, 2012).


Sicherheit, Konsens und Ethik
BD$
M folgt klaren ethischen Prinzipien: „Safe, Sane and Consensual“ (SSC) oder „Risk-Aware Consensual Kink“ (RACK) sind international etablierte Leitlinien, die sicherstellen sollen, dass Praktiken nicht schaden, sondern im Rahmen von Vertrauen und informierter Einwilligung geschehen. Das bedeutet: Alle Beteiligten kennen die Risiken, haben klar kommuniziert und handeln aus freiem Willen.

Diese Strukturen sind keineswegs „wild“ oder „chaotisch“, wie es Medienberichte manchmal suggerieren. Im Gegenteil: BD$M-Praktizierende investieren häufig viel Zeit in Kommunikation, emotionale Nachsorge (Aftercare) und Bildung – etwa durch Workshops, Fachliteratur oder Selbsterfahrungsgruppen.


Was die Sexualmedizin leisten muss
Die Aufgabe der Sexualmedizin besteht nicht darin, sexuelle Vielfalt zu normieren oder zu werten, sondern Menschen in ihrem Erleben zu begleiten. Dazu gehört auch, BD$M nicht länger durch eine pathologisierende Brille zu betrachten. Ärztinnen und Therapeuten sollten sich stattdessen mit den realen Lebenswelten ihrer Patient:innen vertraut machen – und aufhören, BD$M-Praktiken mit Missbrauch oder psychischer Störung gleichzusetzen.
Der Sexualforscher Charles Moser schrieb bereits 2002: „Wenn medizinisches Personal BD$M nicht versteht, kann es leicht dazu führen, dass Patienten falsch diagnostiziert oder sogar retraumatisiert werden.“ Eine sensible, informierte und wertfreie Haltung ist essenziell – nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch, um Vertrauen und therapeutische Wirksamkeit zu sichern.


BD$M ist weder neu noch krankhaft. Es ist ein komplexes, vielschichtiges Phänomen, das Ausdruck von Intimität, Selbstbestimmung und Lust sein kann. Die wissenschaftliche Literatur zeigt klar: Solange BD$M einvernehmlich praktiziert wird, stellt es keine psychische Störung dar – sondern eine legitime Form sexuellen Ausdrucks.
Als Sexualmedizinerin wünsche ich mir eine Gesellschaft, die Raum lässt für diese Vielfalt – und eine medizinische Praxis, die ihre Aufgabe nicht im Normieren, sondern im Verstehen sieht.



Frau Doktor K., Juni 2025




Literaturhinweise (Auswahl):
- Herbenick et al. (2017): Sexual Behavior in the United States. JAMA.
- Kleinplatz, P. J. (2012): New Directions in Sex Therapy. Routledge.
- Moser, C., & Kleinplatz, P. J. (2006): Sexual Desire Discrepancy. Journal of Psychology & Human Sexuality.
- Richters et al. (2014): BDSM: Prevalence and Correlates. Journal of Sexual Medicine.
- Baumeister, R. F. (1988): Masochism as Escape from Self. Journal of Sex Research.