Die Ambivalenz von Masturbation zwischen natürlicher Lust und lähmender Scham. 


Aus akademischer Perspektive belegen klassische Fachwerke und aktuelle Studien, dass Masturbation eine gesunde Form der sexuellen Selbstbestimmung ist – doch gesellschaftliche Prägungen führen bei vielen Menschen zu Schuldgefühlen. Ich möchte aufklären, warum Masturbation wesentlich für sexuelle Gesundheit und Autonomie ist und wie wir innere Blockaden überwinden können.


Bestandteil der sexuellen Entwicklung
Bereits Thomas W. Laqueur beschreibt in seinem wegweisenden Buch "Solitary Sex" die historische Entwicklung der Masturbationsdiskurse – angefangen von antiker Akzeptanz bis hin zu pathologisierenden Einstellungen des 18. Jahrhunderts. Heute bestätigt die medizinische Fachwelt: Masturbation ist körperlich unbedenklich und psychisch normal (Merck Manual, American Medical Association). Eli Coleman und Walter Bockting legen dar, dass Masturbation nicht nur Lust bereitet, sondern maßgeblich dazu beiträgt, das eigene sexuelle Erleben und die Selbstidentität zu entdecken.

Körperliche und psychische Vorteile
Wissenschaftliche Daten zeigen deutlich, dass Masturbation positive Auswirkungen auf Körper und Geist hat. Sie dient als effektive Form der Stressreduktion. Untersuchungen belegen, dass insbesondere bei Frauen häufige Masturbation psychische Entspannung und eine stabile Stimmungslage fördert. Masturbation kann durch Botenstoffe wie Endorphine, Oxytocin und Dopamin Schlaf, Wohlbefinden und Schmerzempfinden verbessern. Die Forschungsarbeit von Kaestle und Allen zeigt: Jugendliche und junge Erwachsene mit höherer Masturbationshäufigkeit verfügen über ausgeprägtere sexuelle Kenntnisse und eine insgesamt funktionalere Sexualität. Meta-Analysen verbinden Masturbation mit höherer sexueller Zufriedenheit bei Partnern und Alleinstehenden. Nicht zuletzt ist Masturbation eine risikoarme Alternative zu Partnersex und kann zur Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten beitragen.


Gesellschaftliche Normen, Scham und Stigma
Scham gegenüber Masturbation ist tief verankert in kollektiven Moralvorstellungen und religiöser Prägung. Laqueur beschreibt eindrucksvoll, wie solche Einstellungen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden und noch heute fortwirken. In Wilhelm Reichs Aufsatz "Spezifität der Onanieformen" von 1922 geht es weniger um pathologische Schuld, sondern um unbewusste Fantasien und innere Konflikte während der Selbststimulation. Feministische Stimme wie Emily Lindin argumentieren, dass Masturbationsscham eng verbunden ist mit sexistischen Strukturen, die Frauen zu passiven Lustempfängerinnen stilisieren. Martha Nussbaum betont in "Hiding from Humanity"
, wie emotionale Stigmata, Scham und Ekel zur Unterdrückung sexueller Selbstbestimmung beitragen. 

Scham, Bindungsdynamiken und persönliche Geschichte
Persönliche Faktoren bestimmen, ob Masturbation als befreiend oder schambesetzt erlebt wird. Kaestle und Allen weisen darauf hin, dass Jugendliche oft zwischen Sozialisation, Ängsten und selbstgesteuertem Lustverlangen schwanken. Frauen erleben inneren Druck häufiger negativ, während Männer häufiger mit Gelassenheit berichten. Beziehungsmuster – etwa Bindungsstile – wirken stark mit: Personen mit ängstlich-verstricktem Stil empfinden Masturbation oft als „fremdgehen“ und fühlen sich schuldig, selbst wenn keine Untreue im Spiel ist. Bei traumaerfahrenen Patientinnen wiederum kann Masturbation sowohl hilfreich (Wiedergewinnung von Körpergefühl) als auch belastend (Trigger, Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper) sein.


Masturbation in der Sexualtherapie
In der Sexualtherapie – wie bei Masters & Johnson – hat Masturbation eine zentrale Rolle. Ihr klassisches Werk "Human Sexual Response" beschreibt, wie körperliche Selbststimulation physiologisch identisch mit Partnersex wirkt – und doch viele Paare durch gezielte Übungen ein gestärktes sexuelles Selbstbewusstsein erlangen konnten. Auch in der Traumatherapie wird zunehmend masturbatorische Selbstreflexion als therapeutisch wertvolles Mittel genutzt: Methodiken wie die Bodysex-Übungen von Betty Dodson fördern Körperakzeptanz und orgasmische Selbstkompetenz.


Masturbation ist gesundheitlich erst dann auffällig, wenn sie zwanghaft wird, das Leben dominiert oder Schmerzen verursacht. Das Merck Manual nennt physische Risiken: Penis- oder Scheidenverletzungen, eingeführte Fremdkörper, oder seltene Syndrome wie POIS*) sind möglich, wenn unachtsam oder exzessiv praktiziert wird. Auch eine Abhängigkeit von Pornografie kann zu psychischer Desensibilisierung führen und das Sexualleben beeinträchtigen.


Masturbation als Ausdruck persönlicher Autonomie
Im Kern ist Masturbation ein Akt selbstbestimmter Sexualität – ein selbstgewähltes Mittel, Lust zu erfahren, ohne von äußeren Bedingungen abhängig zu sein. Coleman und Bockting heben hervor, dass das Kennenlernen des eigenen Körpers zentral zur Selbstliebe beiträgt und somit auch die Beziehungsfähigkeit stärkt. Entsprechend stellen Masturbation und Selbstreflexion einen wichtigen Baustein für eine sexuelle Identität ohne Leistungsdruck dar.

Als Sexualmedizinerin appelliere ich: Lasst euch die Erlaubnis, euch selbst zu erforschen und zu genießen – ohne Schuld, aber mit Achtung für euren Körper. Denn in dieser Selbstliebe entsteht oft erst der Raum für wahre Beziehung und sexuelle Freiheit.

Dein Sex gehört Dir!


Frau Doktor K., Juni 2025



*) POIS = Post-Orgasmic-Illness-Syndrom ist eine seltene, aber dokumentierte Erkrankung, bei der Betroffene nach einem Orgasmus (egal ob durch Geschlechtsverkehr, Masturbation oder spontane Ejakulation) eine Vielzahl unangenehmer körperlicher und psychischer Symptome entwickeln.




Literaturhinweise (Auswahl):

- Coleman, E. & Bockting, W.: Masturbation as a Means of Achieving Sexual Health (Rezension, 2005)

- Dodson, B.: Sex for One: The Joy of Selfloving (1970er–2000er)

- Human Sexual Response, Masters & Johnson (1966)

- Kaestle, C. E. & Allen, K. R.: „The Role of Masturbation in Healthy Sexual Development“ (Journal of Adolescent Health, 2011)

- Laqueur, Thomas W.: Solitary Sex: A Cultural History of Masturbation (2003)

- Nussbaum, M. C.: Hiding from Humanity: Disgust, Shame, and the Law (2004)

- Reich, Wilhelm: “Über Spezifität der Onanieformen” in der Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse (1922)